«Die Frage heisst immer: Was braucht das Kind?»

Beatrice Keller-Rossi ist Sozialpädagogin und seit 1976, also seit der Gründung des Vereins für Heilpädagogische Grossfamilien (VHPG) Mitglied. Seit den Anfängen gestaltet sie im Vorstand des Vereins, heute tipiti, mit. Ihr Bericht.

Ich kenne tipiti (ehemals VHPG) seit seiner Gründung im 1976. Zu der Zeit stand ich im Vorpraktikum in der Klinik Sonnenhof in Ganterschwil. Ich war begeistert von diesen Ideen, die meinen Idealen entsprachen. Die Heilpädagogischen Grossfamilien waren für mich eine echte Alternative. Sie deckten sich mit meinen Werten, denn sie gehen von den Bedürfnissen der Kinder aus, betreuen sie individuell und stigmatisieren sie nicht, wie das bei Heimen manchmal der Fall ist (Stichwort «Heimkind»).

Seit den Anfängen dabei... bald auch im Vorstand

Seit der Gründung des Vereins war ich Mitglied. Irgendwann akzeptierte ich, motiviert von Rolf Widmer, im Vorstand mitzuwirken. Ich hatte selbst eine Jugendwohngruppe aufgebaut und leitete sie. Rolf war es wichtig, dass Mitglieder mit spezifischem Knowhow im Vorstand mitgestalten könnten. Es ist ein sehr engagierter und qualifizierter Vorstand mit grossem Knowhow, der kooperativ zusammenarbeitet. Jede·r von uns steht persönlich mit einem Bereich im Kontakt. Ich begleite die Oberstufenschule Wil und besuche sie mehrmals pro Jahr. Jeweils sehr beeindruckt bin ich, wie der Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden und den Jugendlichen untereinander läuft. Das manifestiert sich auf eindrückliche Weise an ihren täglichen Schlussrunden.

Dieser Fokus auf die Bedürfnisse der Kinder

Ich erlebe tipiti als sehr dynamische und lernende Organisation. Alle Tätigkeiten und das fachliche und persönliche Engagement sind auf die Kinder und Jugendlichen zentriert. Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Zielstrebigkeit bedürfnisorientierte Angebote neu entwickelt werden, beispielsweise die Übergangsfamilien oder die Arbeit mit den minderjährigen Flüchtlingen. Ich staune aber auch, wie gezielt Angebote, die kein Bedürfnis mehr sind, wieder abgebaut werden.

Wir sind auch Arbeitgeber·innen

Tipiti will möglichst wenig finanzielle Risiken eingehen und mit möglichst wenig Fixkosten arbeiten. Als Vorstandsmitglied sehe ich meine Rolle im Mitdenken, kritisch Hinterfragen und Mittragen, basierend auf Vertrauen zwischen Vorstand und Geschäftsleitung. Ich habe nicht in alle Bereiche einen tiefen Einblick, versuche aber, den Überblick zu behalten. Auch belastende Entscheide werden mit Respekt und Würde getroffen. Ich denke, tipiti ist als Arbeitgeber in der Arbeitsplatzgestaltung und der Entlöhnung fortschrittlich und achtet darauf, dass jede·r sich einbringen kann.

Das wichtigste und schönste bei tipiti

Bei tipiti dazu zu gehören, ist eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten, für das Kind, sein Umfeld, die Mitarbeiter·innen. Kinder und Jugendliche auf dem Weg in ein eigenständiges Leben zu begleiten und ihnen verlässliche Beziehungsangebote ermöglichen, ist eine edle Aufgabe, die nur Sinn macht. Die Bedürfnisse der Kinder und ihres Umfeldes sowie die Mitsprache der Mitarbeitenden ins Zentrum zu stellen – beides ist mir wichtig.

Hindernisse und Zukunft gestalten

Nicht einfach finde ich, wenn wir uns von Mitarbeitern·innen durch Kündigung oder wegen Krankheit trennen müssen. Wichtige Entscheide stehen in den nächsten Jahren an, denn der Initiator und Geschäftsleiter seit bald fünfzig Jahren, Rolf Widmer, wird sich zurückziehen. Wir hoffen alle, dass sich neue Kräfte engagieren können, damit tipiti auch in Zukunft als Plattform für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen und für Mitarbeiter·innen, die sich für diese engagieren möchten, bestehen wird. Wir wünschen uns, dass wir als tipiti weiterhin am Puls der Zeit bleiben und uns – mit unseren verankerten Werten – dort einbringen, wo junge Menschen auf besondere Hilfen angewiesen sind. Im Zentrum soll immer die Frage stehen: Was braucht das Kind?

Interview aufgezeichnet von Rolf Widmer