Wie ein grosser Bruder

 
Herzlichen Dank an Mirjam Bächtold (Text und Fotos), Appenzeller Volksfreund
 
Als Enayat Askary von der Schule nach Hause kommt, erkundigt sich Tobias Altherr auf Hochdeutsch, wie es ihm bei der Prüfung gegangen sei. «Nicht so gut», murmelt der Teenager mit dem dunklen Wuschelhaar und ergänzt: «Wir mussten Musiknoten nach Gehör schreiben.» Dann setzt er sich an den grossen Esstisch und sofort kommt der vierjährige Henrik zu ihm, klettert auf seinen Schoss und zeigt ihm ein Büchlein, das er bekommen hat. Es ist ein ganz normaler Montagnachmittag. Nur dass Enayat Askary erst seit Oktober 2021 zu dieser Familie gehört. Er kam im Mai 2021 in die Schweiz, nachdem er vier Jahre auf der Flucht war, mit längeren Aufenthalten in verschiedenen Ländern.

Bis zur Volljährigkeit in einer Familie Ursprünglich stammt der 17-Jährige aus Afghanistan. Von dort floh er mit seiner Familie. Seine Mutter und sein kleiner Bruder leben immer noch im Iran, seine ältere Schwester wohnt mit ihrem Mann in Chur. Enayat Askary kam erst nach ihr allein in die Schweiz und gilt deshalb als unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMA). In anderen Kantonen leben UMAs in Asylunterkünften zusammen mit Erwachsenen und Familien, was für sie schwierig sein kann. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden bietet der Verein tipiti für UMAs jedoch die Möglichkeit, mindestens bis zur Volljährigkeit in einer Integrationsfamilie zu leben. Dadurch fassen sie hier schneller Fuss, erleben die Schweizer Kultur hautnah mit und lernen leichter Deutsch.

In der Familie integriert
Enayat Askary ist mittlerweile zu einem Familienmitglied bei Tobias Altherr, Marianne Hutter und ihren drei Buben in Speicher geworden. «Die Kinder sind wie meine kleinen Brüder und zu Tobias und Marianne kann ich immer kommen, wenn ich ein Problem habe», schildert der Jugendliche. Und auch für die drei Buben Ursin (7), Paul (6) und Henrik (4) ist er zum grossen Bruder geworden.
 
Als Marianne Hutter und Tobias Altherr von tipiti und den Integrationsfamilien hörten, dachten sie, das könnten sie auch versuchen. «Wir sind früher viel gereist, haben auch Länder im Osten wie den Iran, Kirgisistan und Usbekistan besucht. Dieser Einblick in andere Kulturen hat unsere Weltsicht auch geprägt», sagt Marianne Hutter. Ausserdem seien das Asylwesen und die Flüchtlinge ein grosses Thema, bei dem man fast ohnmächtig ist. «So können wir unseren Beitrag leisten und etwas Gutes beitragen», sagt die 38-Jährige.
 
Gegenseitige Bereicherung
Enayat Askary sei eine Bereicherung für die Familie, finden Tobias Altherr und Marianne Hutter. «Er ist sehr pflichtbewusst und selbstständig», lobt Tobias Altherr. Man merke, dass er viel allein habe erledigen müssen. «Wir müssen ihn nie ermahnen, aufzuräumen oder pünktlich in die Schule zu gehen. Und jeden Dienstag kocht er für alle, meistens etwas Afghanisches», erzählt der 42-Jährige. Ausserdem könne Enayat gut nähen, er flickt ab und zu Löcher in den Kinderhosen und hat für die Kinder schon T-Shirts genäht.

Als Familie haben sie zu sechst schon viele schöne Momente erlebt. «Letzten Winter waren wir zusammen in den Skiferien und ich habe Enayat das Skifahren beigebracht», erzählt Tobias Altherr und Enayat lächelt bei der Erinnerung daran. Für Marianne Hutter sind es neben diesen besonderen Erlebnissen auch die kleinen, alltäglichen: «Es ist schön, dass wir fast täglich zusammen essen und dass Enayat und unsere Kinder so gut miteinander auskommen», sagt sie.

An den Käse gewöhnen
Auch Enayat Askary freut sich über die gemeinsamen Mahlzeiten. Anfangs musste er sich daran gewöhnen, dass Schweizer so viel Käse essen. Jetzt isst er ihn aber selbst gern und mag sogar Raclette. Er ist froh, dass er bei der Familie leben kann. «Ich habe schon viel besser Deutsch sprechen gelernt und dadurch Freunde in der Schule gefunden», sagt er. Er besucht in Speicher die 2. Sekundarklasse.

Was für Marianne Hutter und Tobias Altherr herausfordernd ist, ist nicht die fremde Kultur, denn der Afghane ist sehr offen gegenüber den Schweizer Gepflogenheiten. «Es ist eher das Teenager-Alter, das für uns eine neue Erfahrung ist. Wir sind uns kleine Kinder gewöhnt», sagt Marianne Hutter. Sie und ihr Mann können sich gut vorstellen, dass Enayat Askary auch nach der Volljährigkeit noch bei ihnen lebt, so lange, wie es für alle passend ist.