«Am Schluss kommt es darauf an, was man selbst daraus macht.»

Mit acht Jahren kam Dario Schmid, heute 52, in eine pädagogische Grossfamilie, weil es zuhause nicht mehr ging. Sein Vater war drei Jahre zuvor gestorben und seine Mutter mit dem Jungen überfordert. In seiner Pflegefamilie erhielt Dario die Stabilität und Geduld, die er für seine Entwicklung brauchte. Heute lebt er mit seiner Frau und den beiden Kindern im Kanton Solothurn und führt den gemeinsamen Gärtnerbetrieb.

Gespräch und Text: Manuela Steiner 

In einem ruhigen Wohnquartier von Biberist steht Dario Schmid in seiner zur Werkstatt umfunktionierten Garage und reinigt seine Werkzeuge. Gerade sind die Schüler:innen nach Hause gegangen, die hier jeden Mittwochnachmittag eine Art Schnupperlehre in der Gartenpflege absolvieren. «In einem Holzhaus wie diesem hier bin ich aufgewachsen», erzählt Dario, «in einem alten Bauernhaus, mit vielen anderen Kindern und vielen Haustieren – sogar einen Esel hatten wir, den die Familie Mosimann aufgenommen hatte.»

Dario Schmid kam als jüngstes von fünf Geschwistern in Wattwil (SG) zur Welt. Seine frühe Kindheit war von vielen Schicksalsschlägen geprägt: Sein ältester Bruder verunglückte kurz nach seiner Geburt bei einem Autounfall und sein Vater nahm sich wenige Jahre später das Leben. Dario wuchs fortan alleine mit seiner Schwester bei der Mutter auf. In der Schule galt er als schwierig oder eben «auffällig». Als er beim Spiel mit Streichhölzern versehentlich fast das Schulhaus angezündet hätte, wurde der Erstklässler von der Schule verwiesen.

Ein neues Zuhause in der Grossfamilie

So kam Dario auf den «Sonnenhof» in Ganterschwil, wo Rolf Widmer zu der Zeit Heimleiter war. Dort merkte man schnell, dass der Junge eine direktere Betreuung benötigte, als dies in einem Heim möglich war. Rolf Widmer schlug vor, Dario in einer Grossfamilie des neu gegründeten Vereins Heilpädagogische Grossfamilie VHPG (heute tipiti) zu platzieren.

Mit achteinhalb Jahren kam Dario in die Grossfamilie von Ursula und Beat Mosimann in Wald (AR), wo noch vier weitere Pflegekinder ein neues Zuhause fanden. Dario erinnert sich: «Wir waren alles Kinder mit Problemen. Man brauchte viel Geduld mit mir. Aber sie haben uns nicht aufgegeben.» Anfangs war es oft schwierig für ihn. Er wollte nicht reden, lief einfach weg und versteckte sich. «Manchmal mussten sie mich stundenlang suchen. Zwei oder drei Väter von Grossfamilien zusammen.» Die Grossfamilien in Wald und Umgebung pflegten einen regen Austausch miteinander und unterstützten sich gegenseitig. «Einmal sind wir sogar alle zusammen nach Sardinien gegangen. Damals durfte man da noch wild campen. Wir waren über dreissig Personen. Sogar Rolf ist mitgekommen mit seinen beiden Adoptivsöhnen.»

Von der Sonderschule zum eigenen Betrieb

Doch trotz der neuen familiären Einbettung blieb die Schule schwierig: Im ersten halben Jahr bei den Mosimanns unterrichtete ihn sein Pflegvater zuhause. Danach kam er auf die Sonderschule des Vereins: «In kleinen Gruppen von rund fünf Kindern war es möglich, in meinem eigenen Rhythmus zu lernen. Das hat mir geholfen.» Nach dem achten Schuljahr brach er die Schule aber ab. Als er schliesslich mit achtzehn eine Lehrstelle in der Gärtnerei im Nachbarsdorf fand, hat sich vor allem der Grossvater Mosimann sehr gefreut: «Mein Grossvater war ein leidenschaftlicher Gärtner. Ich denke, das hat abgefärbt.»

In der Gewerbeschule bekam Dario aber sein Manko aus der Schulzeit zu spüren. Sein erstes Zeugnis war so schlecht, dass sein Lehrmeister ihn nur für eine zweijährige Anlehre behalten wollte. Zum Glück protestierte sein Fachlehrer dagegen: «Kommt nicht in Frage. Dario schafft das», meinte dieser zum Lehrmeister. «So habe ich viel gebüffelt und meine Lehre tatsächlich geschafft. Und heute haben wir unser eigenes Gärtnergeschäft.» Dario lächelt stolz: «Ohne meine Frau hätte ich das nie gemacht. Sie ist wie ich gelernte Gärtnerin.»

Es braucht ein Netz von Menschen

Bis zu seinem Lehrabschluss hat Dario bei seinen Pflegeeltern gelebt. Das Unterstützungsnetz des Vereins blieb ihm aber noch viel länger erhalten. Auch als er Jahre später in finanzielle Schwierigkeiten geriet, konnten ihm seine Pflegeltern über einen Notfall-Fonds des Vereins unter die Arme greifen. «Meine Pflegeeltern sind meine wichtigsten Bezugspersonen geworden», sagt Dario. Von seiner Herkunftsfamilie hingegen erhielt er wenig Unterstützung. Lediglich einer sein älterer Bruder war ihm eine Stütze. Dieser war bereits erwachsen, als Dario nach Ganterschwil kam, und besuchte mit ihm die ersten Male seine künftige Pflegefamilie. Später wanderte dieser aber nach Australien aus.

Mit gestärktem Rücken ins Leben

Die Haustüre öffnet sich. Tochter Celina (19) kommt nach einem langen Arbeitstag im Detailhandel durch die offene Wohnküche und verschwindet in ihrem Zimmer. Nur wenig später kommt auch Sohn Lorenz (17) in Arbeitskleidung zurück – er hat neu eine Lehre als Logistiker begonnen. Dario fasst nochmals kurz zusammen: «Ich hatte das Glück, dass ich in meinem Leben vielen guten Leuten begegnet bin. Sonst wäre ich nie so weit gekommen. Meine Pflegeltern haben mir Halt gegeben und mir ein Aufwachsen in einer Familie ermöglicht. Das hat mir den Rücken gestärkt und ganz andere Chancen gegeben, als wenn ich bei meiner Mutter geblieben wäre. Ich glaube, das war das Beste für mich.»

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