«Ein Pflegeverhältnis ist ein herausforderndes Familienkonstrukt.»

Angelika Schulze-Kroll ist Sozialarbeiterin mit verschiedenen Zusatzausbildungen und seit mehr als zehn Jahren Beiständin für Kinder und Erwachsene für die Region Toggenburg in Lichtensteig, auch für Pflegekinder von tipiti. Lesen Sie, wie sie ihre Arbeit reflektiert und wie sie die Zusammenarbeit mit tipiti einschätzt.

Die Fragen hat Jana Lindner, tipiti Fachberaterin, gestellt.

Die erste Begleitung eines Pflegekindes von tipiti übernahm ich vor zehn Jahren aufgrund eines Beistandswechsels. Der grosse Vorteil war, dass tipiti schon involviert war. Die Herkunfts- und die Pflegefamilie wirkten durch tipiti gut getragen. Sie leisteten eine engmaschige Zusammenarbeit mit dem Familiensystem. Tipiti hatte mit der vorherigen Beiständin viel Vorarbeit geleistet, was mich sehr entlastete.

Kinder bewältigen Übergänge oft gut

Meiner Meinung nach befinden sich die leiblichen Eltern oft in Übergängen. Häufig haben sie Probleme mit dem Wohnort, Beziehungsprobleme, Suchtprobleme oder sonstige Belastungen. Die Kinder sind abhängig vom System und müssen diese Übergänge mitmachen. Kommt es zur Umplatzierung, gehen diese auf Seiten der Kinder mit Ängsten, Unsicherheit, Wut, Ärger und Trauer einher. Sie müssen alles in ihrem Leben radikal verlassen und mit neuen Menschen ein neues Leben beginnen. Ich staune immer wieder, wie gut die Kinder das oft bewältigen.

Mit Kindern transparent sein, Bezugspunkte pflegen

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man in diesen Übergängen mit den Kindern ehrlich und transparent reden sollte. Sie müssen wissen, was los ist, warum sie platziert werden und dass sie nicht der Grund und Auslöser sind. Die Arbeit von tipiti schätze ich sehr. Anhand der Biografiearbeit können idealisierte oder negative Erinnerungen Raum finden und aufgearbeitet werden. Verständnis für die Geschichte und das Verhalten des Kindes können dadurch wachsen. Wenn Kinder platziert werden, sollten alte Bezugspunkte möglichst aufrechterhalten werden. Beziehungen zu bekannten Personen sollten weiter gepflegt werden. Sofern es möglich ist, sollten Besuche – eventuell begleitet – zwischen Kind und Eltern stattfinden. Lieber wenige Besuche, als keine Kontakte.

Ein Obhutsentzug gegen den Elternwillen berührt mich

Platzierungen sind meistens unfreiwillig. Mit tipiti habe ich u.a. solche durchgeführt. Es berührt mich, wenn man einen Obhutsentzug gegen den Willen der Eltern, wenn z.B. Gefahr im Verzug ist, durchführen muss. Wenn wir für das Kind einen guten Platz gefunden haben, bin ich erleichtert. In den ersten Monaten nach der Platzierung ist es immer eine grosse Herausforderung, allen – Pflegeeltern, Eltern, anderen Bezugspersonen – gerecht zu werden. Es geht dann oft um Balance, Regelungen und die Wahl der richtigen Worte.

Auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse achten

Kinder haben im Rahmen der Platzierung sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Extrovertierte Kinder brauchen etwas anderes als introvertierte Kinder. Bei einer Platzierung beobachte ich immer wieder, dass Kinder Gefühle des Verlassenwerdens, sich Verlorenfühlens und grosse Verlustängste durchleben. Sie sind konfrontiert mit der Wucht des Bruches in ihrer Familie. Manche Kinder entwickeln in der Zeit eine grosse ICH-Stärke die sich in positiv-angepasstes oder negativ-auffallendes Verhalten entwickeln kann. Wichtig ist, dass die Pflegeeltern in der Zeit der Platzierung sehr engmaschig betreut werden. Leibliche Eltern brauchen Unterstützung und Gehör. Das Kind braucht Halt, Verständnis und Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass sich die Pflegeeltern nicht über die Eltern erheben oder schlecht über sie reden. Den Kindern kann man immer wieder aufzeigen, dass ihre Eltern vieles gut gemacht haben. Kinder brauchen die Akzeptanz ihrer Herkunft und ihrer Situation. Die Pflegeeltern sollten nicht versuchen, die leiblichen Eltern in allen Bereichen zu ersetzen.

Die Wucht des Moments kann Leben verändern

Ich begleitete einmal eine sehr herausfordernde Platzierung. Es ging um Kinder von drogenabhängigen Eltern. Nach zwei, drei Polizeieinsätzen in der Familie entschied die KESB sehr schnell, dass die Kinder aus der Familie herausgenommen werden müssen. Innerhalb von Minuten hat sich das Leben der Eltern und der Kinder geändert. Die Wucht eines Momentes, die die ganze Familie traf. Innert Tagen wurden die Kinder in ein anderes Familiensystem gebracht.

Eine Begleitung bei Platzierungen ist zwingend

Natürlich wäre es schöner, wenn man die Platzierung in Ruhe mit allen Beteiligten erarbeiten kann. Das kann bei allen etwas Leid ersparen. Leider ist das nicht immer möglich. Bei schnellen Platzierungen bearbeitet tipiti die Platzierung mit dem Kind im Nachhinein. Das ist sehr wertvoll. Es sollte meines Erachtens zwingend eine Begleitorganisation bei Platzierungen involviert sein. Schade ist, dass wir Beistände nicht immer genügend Zeitressourcen haben. Wir haben somit kaum die Möglichkeit, ein Vertrauensverhältnis zum Kind aufzubauen. Oft tritt das Herkunftssystem in den Hintergrund. Tipiti macht hier vieles möglich. Darüber bin ich sehr froh. Ein Pflegeverhältnis ist ein sehr spezielles, herausforderndes Familienkonstrukt. Ich wünschte mir, dass sich mehr Pflegefamilien an eine Begleitorganisation/DAF anbinden. Ich erlebe es optimaler in der Zusammenarbeit und damit für die Entwicklung des Kindes.