Übergangspflege: «Es ist schön, wenn das Baby an einen guten Ort kommt.»

Die Pflegefachfrau Stefanie Kunz und die Allgemein-, Pädiatrie- und Palliativmedizinerin und Oberärztin Erika Süess arbeiten auf der Abteilung für Neonatologie am Kantonsspital Winterthur. Übergänge gehören zu ihrem beruflichen Alltag.

Gesprächsaufzeichung: Andrea Rechenmacher, tipiti Fachberaterin Übergangspflege

Was ist euer Bezug zu tipiti?

Stefanie Kunz: tipiti war mir seit einer Recherche während des Studiums ein Begriff. In den letzten vier Jahren auf der Neonatologie hatten wir zwei Babys, die in eine Übergangspflegefamilie von tipiti kamen.

Erika Süess: Ich habe tipiti erst jetzt im Zusammenhang mit der Platzierung eines Babys im Februar kennengelernt.

Welchen Bezug habt ihr zum Thema Übergänge?

ES: Ich selber habe vor allem in der Palliativmedizin viel mit Übergängen zu tun. Wir möchten im KSW den Kinder-Palliativbereich langsam aufbauen. Auf der Neonatologie haben wir mit jeder Geburt und dann der Entlassung der Kinder nach Hause mit Übergängen zu tun. SK: Auf der Neonatologie gibt es ganz viele Übergänge.

Wie habt ihr den Übergang von Baby A. im Februar erlebt?

SK: Ich habe A. regelmässig betreut und war beim Erstkontakt mit der Übergangspflegefamilie dabei. Ich habe die Vorfreude der Familie stark gespürt und konnte gut loslassen. Es ist immer schön, wenn ein Baby mit (s)einer Familie nach Hause gehen kann und dort geborgen und gut aufgehoben ist.

ES: Es hat uns alle sehr beschäftigt, dass dieses Kind nun alleine bei uns auf der Neonatologie ist und niemanden hat, der sich als eigentliche und stabile Bezugsperson darum kümmert. Wir freuen uns sehr, dass es nun diese Familie gibt, die das Kind betreut. Es ist schön, wenn ein Kind an einen guten Ort kommt.

Welche Bedeutung haben Übergänge in eurer Tätigkeit und für die Kinder, die euch anvertraut sind?

ES: Riesig! Wir sind bei der Geburt dabei, dem ersten Übergang überhaupt im Leben. Dann zu erfahren, wie sich jemand die ersten paar Lebensminuten und -stunden präsentiert, wie sich jemand verändert. Die Babys entwickeln sich ja unheimlich, man erkennt sie manchmal nach einigen Tagen schon fast nicht mehr, wenn man länger nicht mehr da war…

Ein wichtiger Übergang z.B. für die Eltern ist, wenn ihr Kind von der Intensivstation in ein "normales" Zimmer kommt, wenn es stabiler ist. Dort haben sie mehr Privatsphäre. Und es ist ein gutes Zeichen, dass es in Richtung nach Hause geht. ES: Dann haben wir noch den Übergang auf unsere Säuglingsstation, die sich ausserhalb der Neonatologie befindet. Die gesündesten Kinder kommen dorthin, wenn wir auf der Neonatologie keinen Platz mehr haben. Es gibt auch Übergänge, wenn eine Aussenklinik ohne Neonatologie ein Baby nach Winterthur verlegen muss. Wir holen diese Kinder jeweils mit der Ambulanz zu uns und hier bleiben sie, bis sie so stabil sind, dass sie entweder zurück in die Herkunftsklinik können oder direkt nach Hause. Übergänge gibt es auch in den Elterngesprächen. Man merkt im Verlauf, wie sich die Eltern entwickeln, selbstsicherer werden und anders auftreten… SK: …und mitwachsen. Und wie sich ihre Rolle in dieser Zeit verändert, von «wir sind Partner» zu «wir sind jetzt Eltern».

Ärztin Erika Süess’ Telefon klingelt. Sie muss mit der Ambulanz an eine Erstversorgung in ein anderes Spital.

Euer Alltag besteht fast nur aus Übergängen!

SK: Es ist immer wieder etwas Neues, und das macht den Beruf auch so spannend. Es ist in den meisten Situationen ein lachendes und ein weinendes Auge, z.B. wenn ein Kind, das sehr lange da war, endlich nach Hause darf, wenn es gesund ist.

Was hat der Übergang von A. bei dir persönlich ausgelöst?

Ich fand es persönlich unglaublich stark von der leiblichen Mutter, dass sie die Kraft hatte zu sagen, sie wünsche ihrer Tochter etwas Besseres, als sie ihr geben könne. Auch traurig, aber trotzdem unglaublich stark. Diese Entscheidung so bewusst zu treffen, fand ich bewundernswert. Ich kann mir vorstellen, dass das ein extremer innerlicher Kampf für sie war.

Und sie hat auch noch Zeit, es sich nochmals zu überlegen. Sie kann die Adoptionsfreigabe erst sechs Wochen nach der Geburt unterschreiben. Dann hat sie noch einmal sechs Wochen Widerrufsrecht.

Was kann ein Übergang allgemein bei den Kindern auslösen, die ihr hier habt?

Wichtig ist, dass die Eltern bei Übergängen für das Kind da sind und ihm Sicherheit und Geborgenheit geben. Man weiss, dass das Kuscheln und der Bindungsaufbau sehr wichtig auch für die spätere Entwicklung sind. Wir sehen das oft, wenn wir die Kinder den Eltern zum Kuscheln geben, dass sich die Kinder stabilisieren. Der der Puls beruhigt sich, die Atmung wird besser und stabiler. Aus der Forschung weiss man, dass das eine positive Wirkung auch für das Immunsystem hat.

Man muss die Familie als Einheit nehmen. Nicht nur das Kind, das unser Patient ist, sondern auch Mami. Papi und Geschwister müssen mit einbezogen werden. Schliesslich sind die Eltern die Spezialisten oder Fachleute für ihr eigenes Kind. Sie sollen auch die Verantwortung haben. Wir sind nur unterstützend im Hintergrund, respektive nur im Vordergrund, wenn es medizinisch akut ist.

Ihr gebt je länger je mehr an die Eltern ab.

Genau. Bei A. dauerte es fast 2 Wochen, bis eine Übergabgsfamilie gefunden wurde. Es wäre schön gewesen, wäre das etwas früher möglich gewesen. Damit A. in den ersten zwei Lebenswochen, wo viel passiert ist in der Entwicklung, noch jemanden ausser das Pflegepersonal an ihrer Seite gehabt hätte.

Tipiti kann in der Regel innert einem bis drei Tagen eine Familie aufbieten. Im A’s Fall dauerte es lange, bis wir von der KESB den Auftrag bekamen. Danach stand die Familie am nächsten Tag im Spital.

Je schneller es geht, desto schöner für das Kind. Und von uns aus wäre es gut, die Familie noch etwas mehr begleiten zu können, bevor wir sie gehen lassen.

Was sollte sich verändern?

Um einen bestmöglichen Übergang zu planen, wäre ein frühzeitiger und transparenter Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Disziplinen in Bezug auf Erfahrungen der Übergangsfamilie mit Babys, gibt es Geschwister usw. optimal. Somit wäre mehr Raum bei diesem ersten prägenden und emotionalen Moment des Aufeinandertreffens von Übergangseltern und Kind, um sich in Ruhe kennenzulernen.