Pflegefamilien: Übergänge bewusst gestalten

Wenn ein Pflegekind in die Familie kommt, löst das auf allen Seiten vieles aus.

Rosina (38) und Claudio (39) haben beide in ihrem Berufsleben schon Wechsel erfahren; sie von der Textilspezialistin zur Filialleiterin, er als früherer Projektleiter im Bausektor zum heutigen Versicherungsberater. Nach der Geburt ihrer Tochter konnten sie aufgrund gesundheitlicher Komplikationen keine weiteren Kinder mehr bekommen. Ihr Wunsch nach einer grossen Familie bewegte Rosina dazu, den Lehrgang für Pflegeeltern zu absolvieren. Inzwischen lebt das Pflegekind L.* bei ihnen. Sie werden von tipiti begleitet.

Ein Familienporträt aus Sicht der Pflegemutter Rosina*, aufgezeichnet von Patrick Horber, Bereichsleiter tipiti Familienangebote für Kinder

Bei der Geburt unserer Tochter gab es bei mir körperliche Komplikationen, sodass unsere Familienplanung damit leider abgeschlossen war. Was sollten wir tun? Im Herzen hatten wir uns immer eine grosse Familie gewünscht. Freunde von uns waren schon Pflegeeltern, und so hatten wir miterlebt, was es bedeutet, ein Pflegekind aufzunehmen. Die Vorstellung, einem weiteren Kind in unserer Familie einen Platz zu geben, liess uns nicht los. Wie ist es für unser eigenes Kind, wenn ein Pflegekind in die Familie kommt? Diese Frage beschäftigte uns. Wir konnten uns zum Glück mit anderen Pflegeeltern darüber austauschen. Diese Gespräche und die Familienaufstellung zeigten uns, dass es gut möglich ist. Das half uns bei der Entscheidung. Dass ein Pflegekind auch wieder zurückplatziert werden kann, war und bleibt für uns ein Thema.

Abklärung, Entscheidung und Ausbildung

So machten wir bei tipiti die Abklärung. Dass sie so intensiv war, finden wir gut. Es war die grösste Entscheidung für eine Veränderung, die wir je gefällt hatten. Ich durchlief dann den Lehrgang für Pflegeeltern. Jetzt werden wir von tipiti begleitet, auch bei den Besuchen mit der Kindesmutter. Vor sieben Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, die Kindesmutter in die Arme schliessen zu können. Heute gehört das wie selbstverständlich dazu. Am Anfang war es anspruchsvoll, doch jetzt haben wir fast ein normales Familienleben. Wir stellten mit der Zeit in der Beziehung mit unseren Kindern fast keinen Unterschied mehr fest. L. bastelte im Kindergarten einfach zwei Weihnachtsgeschenke; eines für ihre Mama und eines für uns.

Übergänge prägen das Pflegefamiliensystem

Es war eine lange Zeit des Übergangs, bis L. endlich zu uns kam. Von der ersten Bewerbung bis zur Anfrage, ob wir L. bei uns aufnehmen könnten, vergingen zehn Monate. Die Kennenlernphase dauerte noch einmal zwei, drei Monate und wurde gegen das Ende hin sehr intensiv; wir fuhren fast jeden zweiten Tag mehrere Stunden, um L. kennenzulernen und ihr einen guten Übergang zu ermöglichen.

Nach dem ersten Besuch der Kindesmutter musste ich über die Trennung weinen. Die begleiteten Besuche waren und sind für alle nicht einfach. Am Anfang verursachten sie für alle ein grosses Gefühlschaos. Wir waren angespannt und wussten nie, wer wie reagiert. Dann besprachen wir sie jeweils vorher. Heute sind wir viel gelassener und freuen uns auf die gemeinsamen Besuchskontakte.

Als L. in die Waldspielgruppe eintrat – der nächste grosse Übergang für sie und uns – konnten wir dies etwa gleich machen wie bei ihrer älteren Pflegeschwester C., unserer leiblichen Tochter. Eine nächste, sehnlichst erwartete Veränderung war L.s Einschulung. Der Schuleintritt gab uns Pflegeeltern mehr Sicherheit in Bezug auf die weitere Dauer des Pflegeverhältnisses. Zuvor fühlten wir als Pflegeeltern teilweise eine Unsicherheit, ob die Platzierung auch auf Dauer standhält. Nun kennen wir ihre Geschichte immer besser und sehen, wie gut der Entscheid Ihrer Mutter war, L. zur Pflege abzugeben. Wir sind dankbar, über diesen Entscheid. L. passt einfach wunderbar in unsere Familie, und dank der liebevollen Art der Mutter konnten wir auch sie ohne Zögern in unser Herz aufnehmen.

Ein grosser Übergang war auch, als ich wieder ausser Haus arbeiten ging. Ich habe zu beiden Kindern eine enge Bindung, und es wäre ohne die Sicherheit meines Mannes und der beiden Grosseltern, die in der Nähe wohnen, nicht möglich gewesen.

Wie ist es für das eigene Kind?

Die Aufnahme von L. als unsere Pflegetochter löste bei unserer Familie viel aus, besonders bei ihrer älteren Pflegeschwester. Sie war das Einzelkind in der Familie gewesen und musste jetzt unsere Aufmerksamkeit mit jemandem teilen. Wir waren beeindruckt von der Offenheit und liebevollen Art unserer leiblichen Tochter; eine Eifersucht war bis zur Einschulung nie da. Mit zunehmendem Alter kam auch das Interesse, wie und wieso L. so viel Thema war? Ein Pflegekind erhält ja nicht nur von den Pflegeeltern Aufmerksamkeit, sondern auch von ihren leiblichen Eltern, Behörden, Beiständen, Fachberater*innen usw…C. hatte auf einmal Mühe, dass Ihre Pflegeschwester so viel Aufmerksamkeit erfährt.

 L.’s Mutter schenkte ihr bei Besuchen immer etwas. Das war und ist für unsere leibliche Tochter nicht immer einfach. Wir – und auch tipiti – müssen beiden Kindern etwa gleich schauen. L. war am Anfang auch ein bisschen überfordert, überspielte aber gewisse Situationen. Sie brauchte Zeit, bis sie ihren Platz innerhalb und ausserhalb unserer Familie fand. Wir finden es grossartig, wie L. mit Ihren sieben Jahren schon so weit ist und sich immer wieder so toll verhält.

Immer freitags: Familienrat mit Pizza

Um die Übergänge gut zu gestalten, mussten wir lernen, die Themen offen und transparent anzusprechen. Auch wenn die Kinder klein sind, können wir mit ihnen reden – natürlich ihrem Alter entsprechend und in ihren Worten –, ihnen eine Stimme geben und Beachtung schenken. Wir mussten viel lernen. Jetzt machen wir immer am Freitag einen Pizzaabend und einmal im Monat halten wir dazu Familienrat.

*Wir anonymisieren die Personen in diesem Beitrag, um ihre Idenität zu schützen.