«Verlässliche Beziehungen sind so wichtig.»

Annamarie Nadler leitet die tipiti Kleingruppenschule in Heiden seit den Anfängen vor zwanzig Jahren. Selbstporträt einer 'autonomen' Schulleiterin.

War es ein Zufall oder eine glückliche Fügung? Jedenfalls suchte jemand mittels Inserat in der Zeitung Menschen, die in Heiden einen Lernraum für Kinder mit besonderen Bedürfnissen aufbauen würden. Ich arbeitete damals als Schulische Heilpädagogin in Heiden, als mich ein Lehrerkollege darauf aufmerksam machte – und seitdem bin ich dabei.

Von Anfang an erlebte ich eine grosse Autonomie und bekam alle nötigen Unterstützungen und Kompetenzen. Meine Arbeit wurde sehr geschätzt – und wird es immer noch! Ich geniesse die Grosszügigkeit und Unkompliziertheit, die unsere Kernarbeit mit den Kindern, Jugendlichen und Familien sehr erleichtern.

Erwartungen erfüllt?

Meine Erwartung vor zwanzig Jahren war, in meiner Arbeit bei tipiti (damals VHPG) Kinder und Familien näher und konstanter begleiten zu können, die in ihrer aktuellen Schul- und/oder Lebenssituation unter Druck stehen. Als Heilpädagogin an der Schule war das nicht wirklich möglich. Also ja – diese Erwartung hat sich sehr erfüllt! Gerade in den letzten Jahren thematisierte der Verein tipiti das Thema Präsenz und Verlässlichkeit in Beziehungen besonders stark.

Besondere Erlebnisse waren für mich die verschiedenen Weiterbildungen; speziell nachhaltig sind mir die Veranstaltungen zu Neuer Autorität und Marte Meo in Erinnerung geblieben.

Fühle mich tipiti zugehörig

Mein Arbeitgeber ist für mich mehr als mein Geldgeber und Vorgesetzter. Der Geist, die Haltung von tipiti wirken für mich tragend und ich fühle mich als ein Teil davon. In all den Jahren erlebe ich meinen Arbeitgeber als wertschätzend; er ermöglicht Autonomie, ist unterstützend da und steht immer hinter mir. Tipiti ist für mich ein Ort geworden, wo ich mich persönlich zugehörig fühle.

Kleine Dinge, grosses Glück

Ich bin eine Freundin der kleinen Dinge und geniesse die alltäglichen goldenen Momente. Wenn etwa ein Schüler am Morgen Kaffeekapseln in die Küche schmuggelt und am Nachmittag fragt, ob mir der neue Kaffee geschmeckt habe ... Oder wenn sich jetzt im Lauf der Vorbereitung zum Jubiläumsfest Ehemalige melden, die sich mit Freude an für sie wichtige Erlebnisse bei uns an der Schule erinnern. Oder wenn uns nach vierzehn Jahren ein Mann aus Schweden anruft! Ich finde es immer wunderbar, wenn ich erfahre, dass ehemalige Schülerinnen oder Schüler ihr Leben für sie passend leben dürfen und können. Aktuell gerade bin ich glücklich, dass das Projekt Familienklassenzimmer an zwei Schulen erfolgreich gestartet ist. Dabei findet Schule zusammen mit allen Beteiligten statt: Eltern, Kind und Lehrperson. Gemeinsam wird regelmässig ein Schulhalbtag gelebt. Es werden zusätzlich zum gewohnten Unterricht passende Themen angesprochen (z.B. was kann wer wann selbstständig…) Das ist eine konkrete Umsetzung aus dem Bereich der Neuen Autorität, in welcher mit vernetzter Präsenz die Kooperation Schule-Elternhaus-Kind unterstützt wird.

Schwieriges gehört dazu

In unserer Arbeit gehört Schwieriges dazu. Meistens sind es Situationen im Zusammenhang mit den Kindern/Jugendlichen und ihren Familien, die zeitweise belastend sein können. Dann wirkt sehr beruhigend, dass wir innerhalb von tipiti kooperativ agieren oder uns allenfalls fachliche Unterstützung von aussen holen können. Schwierige Zeiten sind es für mich, wenn ich mich aus unüberwindlichen Gründen aus einer verlässlichen Beziehung nehme. Zum Glück kommt das nicht oft vor.

Wo es persönlich hingehen soll

Falls nichts Unvorhergesehenes eintritt, möchte ich noch vier, fünf Jahre im Berufsleben dabei sein, die spürbare Altersgelassenheit geniessen und Erfahrungen weitergeben dürfen – und gesund bleiben. Und viele kleine Glücksmomente möchte ich noch erleben und ermöglichen. Dann werde ich meinen Weggang aus dem Berufsleben planen und für tipiti Heiden eine passende Anschlussentwicklung aufbauen helfen.

Und tipiti?

tipiti soll sich weiter so entwickeln, dass Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Familien – und eben auch den Mitarbeitenden – sichere Orte geboten werden können. Die Flexibilität, Kreativität, Lebendigkeit und Unkompliziertheit sollten erhalten bleiben. Auf dass sich immer Menschen finden, die sich eben auch flexibel, kreativ, lebendig und unkompliziert auf diese Arbeit mit Menschen einlassen.

Ich bin überzeugt, dass die tipiti Schulen sich besonders wegen ihrer überschaubaren Grösse von der Regelschule unterscheiden. Das sollte so weiterbestehen. Und ich wünsche mir, dass tipiti im Schulbereich des Kantons Appenzell Ausserrhoden ein wichtiger Ort bleibt, der bei besonderen Umständen begleiten kann, sei es beratend oder wie heute, als Sondersetting.

Aufgezeichnet von Stefan Gander